Im Rahmen einer Anhörungsrüge hat der BGH mit Beschluss vom 28.03.2008 -VI ZR 57/07- ausgeführt, dass Leitlinien von ärztlichen Fachgremien oder Verbänden im Gegensatz zu den Richtlinien der Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen nicht unbesehen mit dem zur Beurteilung eines Behandlungsfehlers gebotenen medizinischen Standard gleichgesetzt werden können.

Solche Leitlinien können nach dem Beschluss insbesondere kein Sachverständigengutachten ersetzen; letztlich obliegt die Feststellung eines Verstoßes gegen den medizinischen Standard der Würdigung des sachverständig beratenen Tatrichters, dessen Ergebnis revisionsrechtlich nur auf Rechts- und Verfahrensfehler geprüft werden kann, also insbesondere darauf, ob ein Verstoß gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungsgesetze vorliegt, das Gericht den Begriff des medizinischen Standards verkannt oder den ihm unterbreiteten Sachverhalt nicht erschöpfend gewürdigt hat.

Der BGH hat damit zu dem in Rechtsprechung und Lehre bestehenden juristischen Streit hinsichtlich der Bedeutung von Behandlungsleitlinien Stellung genommen.

So wurde maßgeblich in der juristischen Literatur gefordert, dass Behandlungsleitlinien mit gehobenem Entwicklungsstand (d.h. Leitlinien der Klasse 3 oder 4), die als sogenannte „evidenzbasierte Leitlinie“ erarbeitet werden, bereits derart gesichert den medizinischen Standard wiedergäben, dass diese ein gerichtliches Sachverständigengutachten gegebenenfalls entbehrlich machen könnten.

Dem wird allerdings entgegen gehalten, dass die Qualität dieser Leitlinien rein selbstbestimmt definiert wird, im Übrigen der Richter bereits nicht beurteilen könne, ob die Leitlinie ihrerseits einschlägig und richtig angewandt werde. Daher waren die Gerichte bislang sehr zurückhaltend, aus einem Verstoß gegen eine medizinische Leitlinie unmittelbar einen Behandlungsfehler abzuleiten, ohne dies durch gerichtliches Sachverständigengutachten zu verifizieren. Dies wird mit vorliegendem Beschluss auch vom BGH geteilt.

Aus der Formulierung des BGH ist allerdings zu schließen, dass den Richtlinien der Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen dem gegenüber durchaus eine entsprechende Substitutionswirkung zukommen könne. Wie sich dies in der Praxis künftig auswirkt, bleibt abzuwarten.